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Aufnahme: 21.05.2015 , HAU Hebbel am Ufer (HAU1) (Video © Walter Bickmann)

Laurent Chétouane

Considering

HAU Hebbel am Ufer (HAU1)

Texte zur Produktion

laurentchetouane.com

Laurent Chétouanes neue Tanzproduktion bringt erstmals jene Schrift auf die Bühne, die schon seit Jahren das heimliche Movens seiner Choreografien ist, nämlich Heinrich von Kleists Erzählung „Über das Marionettentheater“.

Was gilt es zu berücksichtigen, wenn wir tanzen? Unter welchen Umständen können und müssen wir uns bewegen, heute, in Zukunft oder schon seit langem, immer schon? Was ist das Unvermeidliche, in Anbetracht dessen wir jeden unserer Schritte machen, ob wir wollen oder nicht? Wenn uns Kleist in seiner Erzählung „Über das Marionettentheater“ diesbezüglich eine Lehre erteilen sollte, dann ist es wohl die, dass jede unserer Regungen – noch vor jedem politischen, sozialen oder moralischen Umstand – zuallererst schlicht und einfach von einem beherrscht ist: von dem elementaren Gesetz der Schwerkraft. Die Freiheit des Menschen und auch seine Grazie stellen sich zuallererst ihr gegenüber.

Was also tun in Anbetracht dieser Kraft? Das ist die vielleicht einfachste und zugleich wichtigste Frage des Tanzes, in ihr verhandelt er den Menschen und gibt ihm eine Figur. Grob skizziert hat seine Geschichte vor allem zwei Antworten hervorgebracht: das Ballett hat der Schwerkraft das ideelle Streben nach oben, hin zur Schwerelosigkeit entgegengesetzt, der moderne und postmoderne Tanz haben die Schwere im Gegenteil bejaht, haben den Körper fallen lassen.

Der ästhetische Diskurs hat seine eigenen Antworten formuliert, kann aber mit dieser Geschichte in Verbindung gebracht werden: für ersteres kann Schiller als Gewährsmann dienen, für letzteres wurde nicht selten genau Kleists Erzählung als Legitimation herangezogen.

„Considering“ ist der Versuch, gerade mit Kleist eine andere Antwort anzudeuten. Das Setting dieses Versuchs besteht aus mehreren Ebenen: da ist die Ebene des Textes selbst, Kleists Worte, die von Johann Jürgens gesprochen sind und über Lautsprecher im Raum hörbar gemacht werden; da sind die Tänzer Raphaëlle Delaunay und Mikael Marklund und mit ihnen Laurent Chétouanes Choreografie; und da ist schließlich Mathias Halvorsen am Klavier und die von ihm gespielte Musik, die den Anfang setzt: zu Charles Ives beginnen Delaunay und Marklund zu tanzen, um nach diesem Auftakt eine Dramaturgie zu durchwandern, die aus insgesamt vier weiteren Teilen besteht.
Diese Struktur folgt der ursprünglichen Herausgabe von „Über das Marionettentheater“, die Kleist selbst 1810 in seinen Berliner Abendblättern vorgenommen hat, hat er den Text doch vom 12. bis zum 15. Dezember in vier Ausgaben seiner Zeitung und damit in vier Teilen veröffentlicht. So wie beinahe jeder der vier Textteile ein eigenes Kapitel oder eine eigene Geschichte bildet, so ist nach der Eröffnungsszene mit Ives jede weitere Szene aus einem Paar von Text und Musik gebildet, und jedem dieser Paare entspricht wiederum eine eigene Choreografie.

Die Choreografien der vier Teile entsprechen einer Entwicklung, die mehr und mehr andeutet, dass der Schwerkraft vielleicht auf andere Weise begegnet werden könnte. Es ginge vielleicht darum, den Körper mehr und mehr auf das hin zu öffnen, was Kleist – oder genauer: Herr C., eine der Figuren der Erzählung – als „den Weg der Seele des Tänzers“ bezeichnet. Die „Seele“, das wäre in diesem Fall kein geistiges Prinzip, sondern die „vis motrix“, neudeutsch als der Gleichgewichtssinn zu übersetzen, aber auch als die bewegende Kraft. Und es wäre dieses Gespür für das Wirken der Schwerkraft, das den Körper schließlich in Bewegung versetzt, es wäre dieses Gespür, das ein aufmerksames Mitgehen mit der Schwerkraft ermöglicht, durch welches die Körper nicht mehr schwer oder leicht sind, sondern schwer und leicht zugleich.

Der Geist wäre aus diesem Prozess nicht ausgeschlossen, er könnte mitunter auch das Ziel der Bewegung, das Ziel des Weges vorgeben, aber der Weg wäre nur zu gehen durch die stete Rückkopplung mit der „Seele“, die der Schwerkraft folgt. Nur mit ihrem körperlichen Sinn würde ersichtlich werden, wie man den Weg tatsächlich gehen kann. Und wäre der Kontakt zur „Seele“ gefunden, dann ließe sich letztlich ein langer Weg zeichnen, ein Weg, der aus vielen aufeinanderfolgenden Bewegungsphrasen besteht, aus einer Dynamik von verschiedensten Übergängen, die eine Choreografie der Kontinuität erahnbar machten.
(zu „Considering“, 20.5.2015)

Laurent Chétouane (geb. 1973 in Soyaux, Frankreich) ist Regisseur und Choreograf. Nach einem Ingenieurstudium absolvierte er ein Studium der Theaterwissenschaft an der Sorbonne in Paris und ein Studium der Theaterregie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. Seit 2000 realisiert er zahlreiche Inszenierungen an großen Bühnen, unter anderem in Hamburg, München, Weimar, Köln, Athen, Oslo und Zürich, seit 2006 zudem auch Tanz-Projekte mit internationalen Gastspielen in Frankreich, Holland, Belgien, Österreich, Türkei, Norwegen, der Schweiz, Italien und Russland. Außerdem ist er seit vielen Jahren als Gastdozent und Gastprofessor an künstlerischen Hochschulen und Universitäten tätig, unter anderem in Berlin, Bochum, Frankfurt, Gießen, Hamburg, Leipzig und Oslo. 2010 erhielt Chétouane die Wild Card der RUHR.2010 und 2008 den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für hervorragende junge Künstler.

Besetzung & Credits

Choreografie: Laurent Chétouane
Tanz: Raphaëlle Delaunay, Mikael Marklund
Klavier: Mathias Halvorsen
Erzähler: Johann Jürgens
Dramaturgie: Georg Döcker
Licht: Stefan Riccius
Tonbearbeitung und Klangkonzept: Johann Günther
Kompositionen:
Piano Sonata No. 1 (5/5) von Charles Ives
Variationen op. 27 von Anton Webern
Phasma von Beat Furrer
Variations sérieuses op. 54 von Felix Mendelssohn Bartholdy
Partita I (1-3), BWV 825 von Johann Sebastian Bach
Assistenz Choreografie: Lisa Blöchle
Produktion: Christine Kammer und Hendrik Unger
Herzlichen Dank an: Jörg Lehmann, Regina Menzel, Markus Joss, Lars Rebehn, Tomás Correa und den Stroemfeld Verlag
Produktion: Pas de deux GbR.
Koproduktion: La Commune Aubervilliers, Tanzquartier (Wien), HAU Hebbel am Ufer
Gefördert durch die Basisförderung Berlin/ Der Regierende Bürgermeister von Berlin – Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten und vom Fonds Darstellende Künste e.V./ 3-jährige Konzeptionsförderung aus Mitteln des Bundes.
Mit freundlicher Unterstützung von Dock11/ Eden***** Berlin

HAU Hebbel am Ufer (HAU1)

Stresemannstr. 29
10963 Berlin

hebbel-am-ufer.de
Karte

Tickets: +49 (0)30 259 004 27
tickets@hebbel-am-ufer.de

Videodokumentation

Die Videodokumentation wird im Auftrag der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt hergestellt. Im Rahmen dieses Auftrags werden Produktionen im Bereich des zeitgenössischen Tanzes in Berlin dokumentiert. Die Masteraufnahmen werden von der Universitätsbibliothek der Universität der Künste Berlin archiviert. Kopien der Dokumentationen auf DVD werden folgenden Archiven zur Verfügung gestellt und sind ausschließlich im Präsenzbestand (an den Medienplätzen vor Ort) zur Sichtung zugänglich:

Universitätsbibliothek der Universität der Künste Berlin
Mediathek für Tanz und Theater des Internationalen Theaterinstituts / Mime Centrum Berlin
Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz Berlin

Laurent Chétouane / Trailer und Videodokumentationen

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