Texte zur Produktion
Teil 1
GAY GUERRILLA
Gay Guerrilla ist Teil eines Zyklus und zeigt exemplarisch einige von Eastmans Stilmitteln. Seine rhythmischen Figuren haben einen ungewöhnlichen Punch: Eastman betont das physische Element in den Wiederholungen, gleichzeitig wirkt die Musik nie kalkuliert, sondern immer emotional.
Minimal Music war als Genre sehr wichtig für den zeitgenössischen Tanz. Zahlreiche choreografische Klassiker wie Kersmaekers Four Movements on the music of Steve Reich oder Lucinda Childs Dance sind auf Minimal Music choreografiert. Eastmans Version von Minimal Music jedoch wurde durch seinen frühen Tod nicht Teil des Kanons – lediglich zwei choreografische Umsetzungen gab es bis zur Wiederentdeckung seiner Musik. Doch welche Impulse hätte der zeitgenössische Tanz aufnehmen können, wäre sein Werk Teil des Kanons gewesen? Eastman choreografierte selbst, spielte Klavier in Tanzklassen und praktizierte Modern Dance. Diese Affinität hört man in vielen seiner Kompositionen, die von einem anderen Rhythmusverständnis, einem anderen Puls geprägt sind. In Gay Guerrilla nehmen wir diesen Puls auf und geben ihm eine tänzerische Form. Das Stück ist durchzogen von Variationen eines Bounce und füllt es auf mit Zitaten verschiedenster Tanzkulturen. So steht das Vokabular von American Modern Dance gleichberechtigt neben Bewegungen des Urban Dance, zu Beginn gibt es eine Referenz an Becketts Quadrat. Trotz des unterschiedlichen Materials haben wir versucht, all diese Elemente mit einer großen Selbstverständlichkeit zu arrangieren. Gay Guerrilla vermittelt, wie gut zeitgenössischer Tanz dazu geeignet ist, eine größere Sichtbarkeit außereuropäischer, nicht-weißer Tanzkulturen zu ermöglichen.
Teil 2
THE HOLY PRESENCE OF JOAN D’ARC
Die Komposition The holy presence of Joan d’Arc ist für mehrere Instrumente geschrieben und kann auf unterschiedliche Art und Weise arrangiert werden – es gibt Versionen für zehn Celli oder dreizehn Gitarren. Dem Stück vorangestellt ist eine Introduktion, in der Joan d’Arc wieder und wieder zum mutigen Sprechen aufgefordert wird. Im Original singt Eastman diesen Part selbst, danach setzt die Musik ein wiederum ein furioser Rhythmus, der auf Patti Smith’s Rock ‚N‘ Roll N*gger basiert. Eastman webt in zahlreiche seiner Kompositionen sakrale Musik ein und verbindet diese mit aktuellen Themen. Sein Zugang zum christlichen Glauben ist jedoch eher kulturell und politisch motiviert als per se religiös. Für das Programm zur Aufführung verfasste Eastman einen Brief, den er direkt an Joan d’Arc richtete und der als Beispiel seiner Queer religiosity (L. Chessa) gelesen werden kann:
Dear Joan,
find presented a work of art, in your name, full of honor, integrity, and boundless courage. […] I offer it as a reminder to those who think that they can destroy liberators by acts of treachery, malice and murder. They forget that the mind has memory. […] Dear Joan, when meditating on your name I am given strength and dedication. Dear Joan, I have dedicated myself to the liberation of my own person firstly. […] I shall emancipate myself from the bind of the past and the present; I shall emancipate myself from myself. Dear Joan, there is not much more to say except Thank You. […]
Teil 3
FEMENINE
Feminine ist eine Komposition für gemischtes Ensemble. Das Stück wird von einem durchgängigen Puls von Schlittenglocken begleitet und zielt am Ende auf eine Überwältigung der Hörer_innen durch tonale Schönheit ab. Eastman beschrieb es als musikalisches Euphoria, der Moment, indem die Engel den Himmel öffnen. Femenine galt lange als verschollen, bis vor einigen Jahren eine Aufnahme auftauchte, die in der Musikwelt durchweg gefeiert wurde. Bei einer der Aufführungen serviert Eastman, bekleidet mit einem weißen Kleid, Suppe für die Zuhörer_innen. Es sind solche Aktionen, die einen Hinweis auf eine völlig andere Erfahrung von community geben. Der Charakter des Stücks und die andere Zeitlichkeit transportieren eine deutliche Spiritualität, mäandernde Melodien und Rhythmen nehmen die Hörer_innen und Tänzer_innen mit auf eine Reise.
Während der ersten Improvisationen im Studio entstand die Idee, diesen Aspekt der Musik mit einem spiritual movement choir zu begleiten. Er nimmt die Form eines Bewegungschores auf, wie sie beispielsweise Wigman und Laban benutzt haben, arbeitet aber mit anderem tänzerischen Material. So gibt es viele Elemente aus dem afroamerikanischen Social Dance, Twerking, aber auch zeremonielle Tänze aus der samoanischen Tradition, die mit Elementen und Prinzipien des zeitgenössischen Tanzes verwoben werden. Diese Chöre bestehen oft aus Wiederholungen relativ kleinteiliger Bewegungen und nehmen so das repetitive Element der Musik auf. Der signifikante Arm Swing von Kersmaeker in Fase oder das Temps levée arabesque von Lucinda Childs finden ihre Entsprechung in einem Material, das einen anderen Ursprung hat und bis jetzt im Vokabular des zeitgenössischen Tanzes nicht ausreichend repräsentiert ist.
Julius Eastman war eins der seltenen Multitalente der Musikgeschichte: Als Musiker, Komponist, Sänger und Tänzer sorgte seine Begabung schnell für viel Aufsehen und er kollaborierte mit so unterschiedlichen Künstler_innen wie Morton Feldman, Pierre Boulez, Meredith Monk und Arthur Russel. Obwohl seine Kompositionen erfolgreich in den USA und Europa aufgeführt wurden, gelang es ihm jedoch nicht, sich als offen schwuler Afroamerikaner in der Szene einer weiß-dominierten Kunstform durchzusetzen. 1990 starb er mit nur 50 Jahren, obdachlos, nach einer langen Phase des Drogenmissbrauchs.
Mit ihm ging auch ein Großteil seiner Kompositionen verloren. Dank zahlreicher Rekonstruktionen wurde sein Werk in den letzten Jahren wiederentdeckt und international gefeiert. Unter besonderer Berücksichtigung der Werkgeschichte von Minimal Music und zeitgenössischem Tanz übersetzt Christoph Winkler gemeinsam mit internationalen Gästen drei Stücke Eastmans – Gay Guerrilla, The Holy Presence of Joan d’Arc und Femenine – in eine Choreografie, die sich auf die rhythmischen Aspekte und die Programmatik von Eastmans Musik konzentriert. Welche Inspirationen hätte der Tanz aus Eastmans Werk ziehen können, wenn er Teil des musikalischen Kanons geworden wäre?
[Quelle: Abendzettel & sophiensaele.de]
TFB Nr. 1266
Besetzung & Credits
IDEE UND KONZEPT: Christoph Winkler
VON UND MIT: Aloaii Tapu, Jahra ‚Rager‘ Wasasala, Karima Amrani, Lois Alexander, Lisa Rykena, Zen Jefferson, Christofer Medina
CO-CHOREOGRAFIE FEMENINE: Zen Jefferson
MUSIK: Zafraan Ensemble & Guests
ARRANGEMENT: Clemens Hund-Göschel
PRODUKTIONSLEITUNG: Laura Biagioni
LICHTDESIGN, TECHNISCHE LEITUNG: Claes Schwennen
KOSTÜMBILDNERIN: Raki Fernandez
BÜHNENBILD: Valentina Primavera
Eine Produktion von Company Christoph Winkler.
Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds, von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa und der Augstein-Stiftung.
Sophiensæle
Videodokumentation
Die Videodokumentation wird im Auftrag der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt hergestellt. Im Rahmen dieses Auftrags werden Produktionen im Bereich des zeitgenössischen Tanzes in Berlin dokumentiert. Die Masteraufnahmen werden von der Universitätsbibliothek der Universität der Künste Berlin archiviert. Kopien der Dokumentationen auf DVD werden folgenden Archiven zur Verfügung gestellt und sind ausschließlich im Präsenzbestand (an den Medienplätzen vor Ort) zur Sichtung zugänglich:
Universitätsbibliothek der Universität der Künste Berlin
Mediathek für Tanz und Theater des Internationalen Theaterinstituts / Mime Centrum Berlin
Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz Berlin
Christoph Winkler / Trailer und Videodokumentationen
- Christoph Winkler: Interview / Portrait Christoph Winkler (2017)
- Christoph Winkler: Four Non Blondes (Onlinefilm) (2024)
- Christoph Winkler: Four Non Blondes (2024)
- Christoph Winkler: Songs & Dances about the Weather (2023)
- Christoph Winkler: Stay on it (Onlinefilm) (2022)
- Christoph Winkler: Radical Minimal – Coming Together (2022)
- Christoph Winkler: Radical Minimal – Come out (2022)
- Christoph Winkler: Radical Minimal – Stay on it (2022)
- Christoph Winkler: A BEGINNER’S GUIDE TO WORLDBUILDING (2022)
- Christoph Winkler: We are going to Mars (2022)
- Christoph Winkler: Senedon (2020)
- Christoph Winkler: Balafon Phase (2020)
- Christoph Winkler: It’s all forgotten now – A performative Mixtape for Mark Fisher (2020)
- Christoph Winkler: It’s all forgotten now – A performative Mixtape for Mark Fisher (Onlinefilm) (2020)
- Christoph Winkler: On HeLa – The Color of Cells (2019)
- Christoph Winkler: SHUT UP AND DANCE (2018)
- Christoph Winkler: Die Bretter, die die Welt bedeuten (2018)
- Christoph Winkler: Ernest Berk – The Complete Expressionist (2018)
- Christoph Winkler: Sheroes (2017)
- Christoph Winkler: Black Cyborg or If I Had a Heart for Whom Would it Beat (2017)
- Christoph Winkler: Crossing Half of China to Sleep With You (2017)
- Christoph Winkler: Five Studies on Post-Colonialism – Study 5: The Lion and The Dragon (2016)
- Christoph Winkler: Five Studies on Post-Colonialism – Study 4: Dancing Like a White Guy (2016)
- Christoph Winkler: Five Studies on Post-Colonialism – Study 3: Persisches Haar (2016)
- Christoph Winkler: Five Studies on Post-Colonialism – Study 2: Seeing Alvin Ailey (2016)
- Christoph Winkler: Five Studies on Post-Colonialism – Study 1: Can Asians Dance? (2016)
- Christoph Winkler: Urban Soul Café (2016)
- Christoph Winkler: GOLDEN STARS ON BLUE (2015)
- Christoph Winkler: La Fille – Portrait eines Kindes (2015)
- Christoph Winkler: Hauptrolle (2014)
- Christoph Winkler: Abendliche Tänze – Ein TANZFONDS ERBE Projekt (2014)
- Christoph Winkler: Das Wahre Gesicht – Dance Is Not Enough (2013)
- Christoph Winkler: RechtsRadikal (2013)
- Christoph Winkler: Dance! Copy! Right? (2012)
- Christoph Winkler: Maldoror – Amped (Böse Körper – Teil 3) (2011)
- Christoph Winkler: Baader – Choreografie einer Radikalisierung (2011)
- Christoph Winkler: Böse Körper (2011)
- Christoph Winkler: Taking Steps (2010)
- Christoph Winkler: A Taste of Ra (2009)
- Christoph Winkler: Biopics / Introducing Travis & Dennis (2009)
- Christoph Winkler: Saal A (2009)