Texte zur Produktion
Sowjet Berlin. Eine Serie an Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen der Oktoberrevolution gibt Anlass ausgewählte Städter zu einem Treffen mit fünf Genossen einzuladen. Mit Chören und Tänzen gedenken sie des historischen Moments als die Utopie die Macht ergriff, um die fantastischen Errungenschaften der mutigen Helden des goldenen Zeitalters zu preisen. Die Bemühungen, Gräueltaten und Fehler werden nicht im Vergessen versinken. Es ist an der Zeit, die nächsten 100 Jahre der niemals endenden, permanenten Revolution zu planen. Die Körper der Masse werden zu kollektiven Tagträumen für eine bessere Welt choreografiert.
TAGTRÄUME IM ÜBERFLUSS
Gerade jetzt, zum Zeitpunkt der Premiere, möchte ich eure Aufmerksamkeit kurz auf den Prozess lenken, der diesem Punkt vorausgegangen ist, genauer gesagt auf die Fragen, die sich aus diesem Prozess ergaben.
Ausgehend von den Feierlichkeiten der Oktoberrevolution, in einem täglichen Rhythmus, begannen wir mit einer Art Tagtraum-Übung: Denken in Bewegung(en), Träumen in Aktionen. Wir versuchten, Wege zu finden, wieder hoffen zu können, gemeinsam, für eine bessere Welt. Die Rettungspläne variierten: “Wir sollten die Welt anhalten und sie reparieren, oder wenigstens ihr Tempo verlangsamen! Wir sollten ein weitreichenderes Hyper- Bewusstsein für die Auswirkungen unseres Handelns entwickeln! Wir sollten Singularität mit einem marxistischen Algorithmus hacken!” Natürlich waren wir uns bewusst, dass dies alles etwas naiv gedacht war.
Es ist tatsächlich naiv, weil die Idee einer Revolution an sich als entfernter, romantischer Klang nachhallt. Nichtsdestotrotz hinterfragt sie jedoch die Möglichkeit einer politischen Aktion in der heutigen Welt, einer Welt, die uns enttäuscht hat, genauso wie wir sie enttäuscht haben.
Für diese Gruppe hier befindet sich die Welt innerhalb des Theaterapparates, seinen Notwendigkeiten, Gegebenheiten und Arbeitsbedingungen. Fragen über Relevanz von Revolutionen heutzutage, in diesem speziellen Fall, könnten durch Fragen über die Relevanz von Tanz und Theater in einer Welt der nicht- enden-wollenden Hölle ersetzt werden. Die Naivität des kindlichen Spiels bot den Performern eine Plattform – einen Grund sich wieder zu bewegen, die Kartons des Theaterapparates neu anzuordnen, zu singen anstatt zu choreografieren, verschiedene choreografische Agendas gleichzeitig zu nutzen, über die materiellen Bedingungen von Arbeit zu reflektieren oder sich einfach nur zu wünschen, eine Pause machen zu können.
Das Spielerische im Überbordenden der performativen Prozesse, Ästhetiken und Informationen schafft den Raum, um die Behauptung besserer Welten zu diskutieren – ästhetisch heterogen, virtuos und gleichzeitig völlig außer Kontrolle – einer Welt, die durch unterschiedliche Systeme hindurch – von Anarchie bis Freundschaft – nachhaltig und geordnet ist. Auch wenn diese Welt auseinander fällt, sind ihre Ausführenden weiter in der Lage die Kraft zu finden, um einen Plan zu schmieden und nicht von ihm abzuweichen. Sich an den Plan zu halten, heißt Versprechen für die nächste Staffel zu halten, die gleichermaßen riesig, mutig und pathetisch ist.
Mila Pavicevic
DIE GENOSSEN
In letzter Zeit hört man Sergiu Matis des Öfteren: “Ich liiiiebe das Tanzen!”, sagen und dabei jegliche Ironie vermeiden – was ihm nicht leicht fällt. Diesen Enthusiasmus hat er in den letzten drei, vier Jahren, als es ihm gelang durch eine Methode, eine bestimmte Denkweise, die er selbst den “sichtbar denkenden Körper” nennt, wiedergefunden. Sein Körper wurde schon sehr früh von klassischer Balletttechnik im frisch gebackenen postkommunistischen Rumänien “verseucht”. Ohne zuviel darüber nachzudenken, verliebte er sich in die Art von Disziplin, Präzision und Virtuosität, die damals von russischen Ballettlehrern nach Rumänien gebracht wurde. All dies, eigentlich fast alles, was mit Ballett zu tun hatte, bot genau die Angriffsfläche für spätere Ab- und Auflehnung dagegen. Sergiu fragt sich oft, welche Art von Tanz er ausüben würde, wäre er nicht mit 18 Jahren von Rumänien nach Deutschland gegangen oder hätte er ein Stipendium der Ballett Akademie in Kiew angenommen, als er 10 Jahre alt war. In genau dieser alternativen Realität würde er jetzt wahrscheinlich mit klassischen Ballettkompagnien arbeiten und dort versuchen, den klassischen Stil neu zu sortieren und parallel dazu seinen eigenen Stil zu entwickeln und dabei die Gegebenheiten der Institution nutzen und diese gleichzeitig unterwandern. Aber jetzt sucht er nach einer neuen Virtuosität, lernt von Machinen, vermengt Fragmente aus der Geschichte, springt und fegt durch die Archive – sowohl durch die persönlichen als auch die der westlichen Tanzgeschichte. Er liebt es mit der englischen Sprache als performativem Text, Bedeutung und Ideen zu choreografieren. Dabei flirtet er auch mit Poesie und Theorie, gemixt mit einer Prise intuitiver Schweinereien und groovender Klänge. Für Sergiu tanzt die Stimme mindestens genauso wie der Körper.
Für Jule Flierl stinkt die Bühne, nicht jedoch der Zuschauer. Sie redet gern jedoch ohne den Anspruch, Sinn zu ergeben. Ihre Zunge ist gleichermaßen Sexualorgan wie Sprachinstrument. Jule mag Monster und genau die findet sie, wenn sie versucht zu tanzen. Es gibt Probleme mit ihren einsamen Soli, welche einfach mehr die Umgebung als sie selbst reflektieren möchten, weil sie denkt, sie sei kein Individuum.
Martin Hansen ist Tänzer und Choreograf. Kürzlich begann er, sich mit Formen legalen Diebstahls auseinanderzusetzen, welche im Körper als authentische Erfahrung, geformt und gerahmt durch Ideen und Iterationsprozesse, durch Wiederaneignung und Besichtigung, erfühlt werden können. Martin interessiert sich für die Ökonomie der Zeit im Theater und im Körper, Tanzgeschichte als kolonialisierende Kraft und für Strategien der Punkbewegung, mit diesen Dingen umzugehen.
Gyung Moo Kims Tagebuchnotiz vom 23. Juni liest sich wie folgt: “Diese Typen sind xxxxing crazy! Wie bin ich nur in diese wahnsinnige Revolution hineingeraten?” Und dann: “Man kann einfach nur hoffen, mit derselben erdrückenden Lust im Herzen geblendet zu sein und sich in einem anderen Catch 22 wiederzufinden.” Auch schrieb er: “Wie eine Schlange, die sich vom eigenen Schwanz her selbst frisst.”, und weiter: “Es gibt einfach keinen Weg zurück. Wir sind alle xxxxed.” Und zum Schluss: “Ihr habt mich ertappt, ich bin ein Teil davon!”
Orlando Rodriguez, geboren 1974 in Caracas, Venezuela, ist ein Körperarbeiter im performativen Sinn der Körperarbeit. Er fordert seine Mitstreiter gern heraus, sich mit spezifischen Möglichkeiten im Umgang mit Emotionen, Körpersprache und Interaktion mit dem Publikum auseinanderzusetzen und ist dabei immer am Puls der Zeit. Sein für den Chavismus schlagendes Herz macht ihn zu einem perfektenTeilnehmer, die post-demokratischen Fragen im Kontext der 100jährigen Feierlichkeiten der Revolution anzugehen.
Maria Walser hatte ab einem gewissen Punkt das Gefühl, auf stumm schalten und sich herauszuziehen zu wollen, während sie tanzte, was dazu führte, dass sie anfing zu sprechen während sie sich bewegte. Das bestärkte nur noch ihre Neugier an der Konkretheit von Sprache, also schlidderte sie galant in einige Theaterproduktionen, in denen sie die nicht-psychologisierte Logik des Tanzes vermisste. Also begann sie nach Projekten zu suchen, wo sie beide Interessenfelder verbinden konnte. Die Suche läuft noch. Letztes Jahr fing sie an, eigene Arbeiten zu kreieren. Dieser Schritt ermöglichte einen neuen Zugang zu Passion und Angst. Im Moment weiß sie noch nicht genau, wie sie sich zu den neuesten Entwicklungen, die ihr Leben verändert haben, verhalten soll. Hier also die News: Sie wird demnächst Mutter eines neuen Superhelden, gemeinsam mit der großartigsten Person in diesem Teil der Welt.
Als ehemalige Studentin der Biomolekularforschung ist Diletta Sperman fasziniert davon, wie Chemie, Biologie und Physik mit Dingen zusammenhängen, die wir romantischerweise als einzigartig und gleichzeitig irrational empfinden: Identität, Wünsche, Verhalten. Ihr Körper ist für sie ein Werkzeug, ein Ort, an dem sie tiefgründiger forschen kann – sich auf eine genussvolle Reise zu den Gemeinsamkeiten, die uns alle durch unsere Anatomie verbindet, zu begeben und schlussendlich bei Erwägungen und Perspektiven anzukommen, welche teilweise vorausgesagt werden können, die aber eigentlich durch persönliche Erfahrungen und den kuturellen Kontext geprägt sind.
Martins Rokis aka N1L arbeitet schon seit seinem 12. Lebensjahr mit Sound in verschiedenen Kontexten, als er seine ersten Kreationen auf dem Synthesizer seiner Mutter schuf, um der Bedeutungslosigkeit eines kleinen, osteuropäischen Dorfes im Niemandsland zu entkommen. Seine verschiedenen Hintergründe, ästhetsichen Einflüsse, bipolare Tendenzen und seine Ausbildung in Philosophie und Programmierung verbindend, interessiert er sich für Musik die beides ist: intellektuell und körperlich.
Mila Pavicevic ist Dramaturgin und Schriftstellerin, die gerade im Irgendwo zwischen Berlin, Zagreb und Dubrovnik zuhause ist. Sie glaubt nicht an die Idee des Schriftstellers als Solokünstler und bevorzugt eine interdisziplinäre Arbeitsweise in Kollaboration mit anderen Künstlern. Ihre Interessenfelder umfassen das Theater von Samuel Beckett und Bertolt Brecht, Architektur und Nicht-Orte, Pseudo-Dokumentarismus, die Punk-Bewegung, Superherofilme, das Schreiben von Reiseberichten und Tagebüchern und zu guter Letzt noch die beruhigenden Töne kroatischer Populärmusik.
Dan Lancea wurde im kommunistischen Rumänien geboren und wuchs im Postkommunismus auf. Sein Interesse an Ästhetik und der menschlichen Natur führte zu der Entscheidung, Architektur in Bukarest und São Paulo zu studieren. Er arbeitet als Architekt, Bühnenbildner, Grafik- und Installationskünstler. Sandra Blatterer verbindet in ihrer künstlerischen Praxis verschiedene Arbeitsweisen von angefertigten Skizzenzeichnungen, Videomapping, installativen Arbeiten mit Licht und vorallem Performance im Kontext. Sie untersucht unteschiedliche Methoden der künstlichen Lichtentwicklung und die Auswirkung verschiedener Lichtqualitäten in Räumen.
David Eckelmann ist überzeugt davon, dass der Kommunismus etwas Großartiges ist, jedoch nicht mit der menschlichen Natur kompatibel. Als Kind, geboren im bürgerlichen West-Berlin, kennt er die DDR/UdSSR nur aus Erzählungen. Er hat in seinem Leben eine Menge Tanz gesehen. Das meiste davon versteht er nicht, liebt es aber darüber zu sprechen. Manchmal hat er ein bisschen Angst davor, die Leute könnten herausfinden, dass er seinen MA im Zuschauen und Reden hat. Er arbeitet und lebt als Produzent und Dramaturg mit verschiedenen Künstlern und in unterschiedlichen Projekten. Sollte er über Nacht erblinden, würde er sich aufs Kochen konzentrieren und ein Dunkelrestaurant eröffnen. Er lebt in Leipzig. Sein Baby dort heißt P-Bodies Festival für zeitgenössischen Tanz und Performance. In seiner Freizeit schnitzt er Miniaturen und ist dennoch sozial verlanlagt. Er bevorzugt das Kollektiv. Bisher findet er keine Antwort auf die Frage, ob es etwas gibt, das für ihn nicht von Bedeutung ist (Atomkernspaltung; Federboas; Förderstrukturen).
[Quelle: Abendzettel]
Tanzschreiber Artikel auf www.tanzraumberlin.de
TFB Nr. 1074
Besetzung & Credits
Konzept, Choreografie: Sergiu Matis
Performance: Jule Flierl, Martin Hansen, Gyung Moo Kim, Orlando Rodriguez, Maria Walser, Diletta Sperman
Musik: N1L (Martins Rokis)
Dramaturgie: Mila Pavicevic
Set Design: Dan Lancea
Set Design Assistenz: Sebastian Huber
Kostüm: Philip Ingman
Lichtdesign: Sandra Blatterer
Produktionsleitung: David Eckelmann
Produktionsassistenz: Cornelia Winkler
Kamera: Chloé Guerbois
Sound Technik: Max Johannson
Gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa.
Open Spaces
Künstlerische Leitung: Ludger Orlok
Produktionsleitung: Juan Gabriel Harcha
Organisation: Vincenz Kokot
Kommunikation: Ann-Christin Schwalm
Social Media: Salma Virág Pethö-Zayed
Pressearbeit, Redaktion: Nora Gores
Technische Leitung: Martin Pilz
Das Performanceprogramm der Tanzfabrik Berlin wird gefördert durch die Senatsverwaltung Kultur und Europa und im Rahmen von apap – Performing Europe 2020, kofinanziert durch das Creative Europe Programme der EU.
Tanzfabrik Berlin / Wedding
Uferstr. 23
13357 Berlin
Videodokumentation
Die Videodokumentation wird im Auftrag der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt hergestellt. Im Rahmen dieses Auftrags werden Produktionen im Bereich des zeitgenössischen Tanzes in Berlin dokumentiert. Die Masteraufnahmen werden von der Universitätsbibliothek der Universität der Künste Berlin archiviert. Kopien der Dokumentationen auf DVD werden folgenden Archiven zur Verfügung gestellt und sind ausschließlich im Präsenzbestand (an den Medienplätzen vor Ort) zur Sichtung zugänglich:
Universitätsbibliothek der Universität der Künste Berlin
Mediathek für Tanz und Theater des Internationalen Theaterinstituts / Mime Centrum Berlin
Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz Berlin
Sergiu Matis / Trailer und Videodokumentationen
- Sergiu Matis: Interview / Portrait Sergiu Matis (2019)
- Sergiu Matis: Warp Renderings (2024)
- Sergiu Matis: Blazing Worlds (2023)
- Sergiu Matis: DRANG (2022)
- Sergiu Matis: Hopeless. (2019)
- Instant Feedback / Sergiu Matis: Hopeless (2019)
- Sergiu Matis: NEVERENDINGS – Season 1: 100 Years Revolution (2017)
- Sergiu Matis: Deleted Scenes (2016)
- Sergiu Matis: Explicit Content (2015)
- Sergiu Matis: Duet (2012)
- Sergiu Matis: all of a sudden (Ausschnitt) (2011)
- Sergiu Matis: Doom Room (2010)